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Journalismus unter Druck

Steffen Hoffmann July 6, 2017

"Wie können wir noch besseren Journalismus machen?“

„Wir haben gelernt, dass Journalisten das Gefühl für die Hälfte eines ganzen Landes verlieren können“: Das hat Jochen Wegner, Chefredakteur von ZEIT ONLINE, unter anderem durch die Wahl Trumps zum US-Präsidenten, den kommenden Austritt Großbritanniens aus der EU oder die politischen Umwälzungen in Frankreich feststellen müssen.

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Zu abgehoben? Lebensfremd? In der eigenen „Filterblase“ gefangen, die nur Informationen durchlässt, die die eigene Haltung bestärken? Das Gegenteil sei der Job der Journalisten, betonte Wegner. Bei Punktsieben, dem Diskussionsforum der evangelischen Kirchengemeinde Walldorf, sprach der studierte Physiker und Philosoph zum Thema „Journalismus unter Druck“ und stellte unter anderem die Lehren vor, die er und sein Team daraus gezogen haben.

Unter anderem brach er – überraschend, auch für ihn selbst – eine Lanze für den Lokaljournalismus. Rentner, die das Freibad in Oberscheld retten, der Konflikt des TSV im hessischen Laufdorf, Probleme älterer Leute, als die Bankfiliale im ländlichen Dorf schloss: „Das sind unsere meistgelesenen Geschichten.“ Für eine Redaktion mit 80 bis 90 Mitarbeitern, die ihren zwölf Millionen Lesern eigentlich über die ganze Welt berichtet, eher ungewohnt. So etwas „ist doch nicht weltbewegend“ – oder?

Von jeher gelte Zeit Online im Vergleich zu anderen Redaktionen als „zu langsam“, zu überlegt, erklärte der 47-Jährige. Man recherchiere zu viel, biete „viel zu lange Texte“ mit zu komplizierten Inhalten. „Aber es funktioniert super, wir verdienen Geld“ – nicht selbstverständlich im Online-Journalismus.

Da die Gesellschaft zu verlernen drohe, miteinander zu reden, investiere Zeit Online „in eine zivilere Diskussionskultur“: Statt Online-Kommentare abzuschalten, wie andere große Zeitungen, lasse man sie durch ein eigenes Team moderieren, auch wenn Bösartiges oder sogar rechtlich Fragwürdiges darunter sei. „Wir brauchen offene Kommentarräume.“ So erhalte man auch sofort Rückmeldungen über die eigene Arbeit, über Fehler oder blinde Flecken. Den Dialog mit den Menschen wachzuhalten, ihnen mit einer gewissen Empathie zu begegnen, sei auch „eine Frage der Glaubwürdigkeit“. 

Ebenso wie der Verzicht auf eigene „Propaganda“, weder gegen Trump noch für die EU, alle Informationen müssten auf den Tisch, so Wegner. Transparenz zähle auch dazu: Zeit Online mache in verworrenen, sich noch entwickelnden Lagen, etwa bei Anschlägen, immer deutlich, „was wir wirklich wissen“ und was nicht. Wegner räumte mehrfach ein, dass das Bemühen um Aufrichtigkeit und Authentizität innerhalb der Redaktion permanent kontrovers diskutiert werde.

Mehrere Projekte, um direkt in Kontakt mit den Menschen zu kommen, wurden überdies gestartet. Heimatreportagen gehören dazu: Wegner selbst, in Bretten aufgewachsen, habe von dort berichtet, andere Kollegen aus Calw oder Wismar. Zudem habe man sich ein Netzwerk von Lokalreportern aufgebaut: „Wir müssen Leute treffen, die wir früher nie getroffen haben“, so Wegner, kleine Geschichten, mit denen sich die Leute überall identifizieren könnten, bringe man in großem Stil.

In den „Konfrontationen“ mit Mitgliedern des Punktsieben-Teams und in der Diskussion mit den zahlreichen Zuhörern stellte sich Wegner auch Kritik. Etwa der, dass manche Journalisten ihre eigene Meinung für zu wichtig halten und sich bei der Recherche nur das suchen, was sie bestärkt. Oder dass – gerade in Berlin – zu enge Verflechtungen mit der Politik drohen. Wegner betonte: „Wir geben uns Mühe, unabhängig zu berichten.“ Und man lege die Recherche-Ergebnisse immer „mit einer gewissen Demut“ vor. 

Ein anderer Zuhörer vermisste eine klare politische Haltung in der heutigen Medienlandschaft, eine Orientierung für die Menschen. Hier erwiderte Jochen Wegner, dass die Zeit insgesamt ein Medium sei, „das alle Thesen gleichzeitig vertritt“ und manchmal These und Antithese zugleich auf die Titelseite hebe: „Diese Debattenkultur hat uns groß gemacht, davon brauchen wir mehr.“

Die Krise konnte Wegner auch als Chance sehen. Er berichtete von Kontakten zu Kollegen hier und in den USA: Niemand frage mehr: „Was ist das nächste Geschäftsmodell?“, sondern: „Wie können wir noch besseren Journalismus machen?“ Parallel zeige sich, dass in Krisenzeiten niemand nur von sozialen Medien und Internetforen informiert werden wolle: Dann wendeten sich die Menschen an etablierte, seriöse Medien.

(seb)

100 Prozent Erbschaftssteuer

Steffen Hoffmann March 26, 2017

„Hält unsere Gesellschaft die Ungleichheit aus?“

Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Guy Kirsch bei Punktsieben

Walldorf. (seb) „Ich halte es für ein Unding, dass Tote in das Leben ihrer Nachkommen hineinregieren wollen – und wenn sie ihnen was in den Rachen schmeißen.“ Als Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Guy Kirsch seinen Vorschlag einer 100-prozentigen Erbschaftssteuer verteidigte, stand für ihn die Idee eines freien, selbstbestimmten Lebens im Geiste des individualistischen Liberalismus im Vordergrund.

Der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler erntete viel Widerspruch in der kontroversen Diskussion mit den Besuchern bei „Punktsieben“, dem Diskussionsforum der evangelischen Kirchengemeinde Walldorf. Die Punktsieben-Mitglieder konfrontierten Kirsch auch mit anonymisierten Stellungnahmen, die im Vorfeld per E-Mail zugesandt worden waren und seinen Vorschlag rundweg ablehnten.

Fragen der praktischen Umsetzbarkeit allerdings, nach Steuerflucht oder sozial gerechter Verteilung der Einnahmen, schob Kirsch in der Diskussion beiseite. Man müsse eben Wege finden, meinte er, fand es aber inakzeptabel, sich einem Vorhaben zu widersetzen, nur weil es schwierig werden könnte. Wenn, dann sollte man es ablehnen, weil man es schon vom Ansatz her falsch finde.

Jedoch: Falls man das Vererben nicht grundsätzlich in Frage stelle, „dann hat man sich für eine feudale Gesellschaft entschieden“. Der Professor für Neue Politische Ökonomie legte mit Verweis auf Statistiken und Studien wie die Schulleistungsuntersuchung „Pisa“ dar, dass die soziale Ungleichheit „mitvererbt“ wird, dass Reiche reicher werden, Arme wiederum ihren Kindern weniger Chancen geben können und diese damit „um ihr Leben betrogen werden“: „Sie können leisten, was sie wollen, sie kommen nie auf einen grünen Zweig.“ Ganz grundsätzlich sollte der nächsten Generation ermöglicht werden, „ihr eigenes Leben zu leben“, unberührt von den Verhältnissen im Elternhaus. „Wir nehmen den einzelnen ernst.“ Darin sah er auch Immanuel Kant auf seiner Seite. Und so forderte Kirsch einen „Wechsel der Perspektive“: Aus seiner Sicht gelte es zu begründen, warum jemand Anspruch auf das Erbe habe.

Wie Guy Kirsch weiter darlegte, sollte seine Erbschaftssteuer nicht an den Fiskus, sondern in einen Fonds fließen, der von einem vielfältig besetzten Gremium kontrolliert wird – außer Reichweite der „Grabschhände irgendeiner einzelnen Partei“. Mit diesem Fonds sollte die kommende Generation so unterstützt werden, dass alle die gleichen Startchancen hätten. „Was sie damit machen, ist ihre Sache“, niemand dürfe den Menschen vorschreiben, wofür sie ihr Geld verwenden. Ob sie es verprassen oder damit Unternehmen gründen, sei vom Standpunkt des Individualisten einerlei. 

Kirsch antwortete den Kritikern weiterhin, dass manager- statt erbengeführte Firmen nachweislich erfolgreicher seien. Und er bezweifelte, dass der Leistungswille der Menschen nachlasse – weder derjenigen, die dann nicht mehr vererben könnten, noch derjenigen, die dann praktisch ein „bedingungsloses Einkommen“ hätten: „Diesen Pessimismus teile ich nicht.“ Kirsch hielt auch das im Grundgesetz verankerte Recht auf Eigentum nicht für anwendbar, schließlich seien die Eigentümer im Vererbungsfall tot, „die sind weg“. 

Dass Tote nicht die Bestimmer über die Lebenden sein dürften, erwiderte er auch auf einen Kompromissvorschlag. Ein Zuhörer verwies auf das christliche Menschenbild, das jedes Individuum eingebunden im Kreis weiterer Menschen sehe, die Gemeinschaft und die Verantwortung füreinander betone. Mit dem Vererben komme man praktisch der Verantwortung für seine Kinder nach. Klar sei in der Bibel die „Option für die Armen“, hieß es, daher könnte man als Christ eine Erbschaftssteuer befürworten, mit der Einkommensschwache gefördert werden, nur eben geringer als 100 Prozent. 

Dass nur wenige seiner Meinung sind, findet Guy Kirsch grundsätzlich gut: „Wo alle das Gleiche denken, denkt niemand.“ Er sieht sich aber in einem bestätigt: „Mein Vorstoß passt in diese Zeit.“ Die große Resonanz, positiv wie negativ, wäre für ihn vor wenigen Jahren noch unvorstellbar gewesen. Jetzt aber: „Pegida, AfD, Front Nationale, Trump: Das sind Zeichen von Auflehnung wider den gegenwärtigen Verteilungszustand. Wir wären schlecht beraten, diese Zeichen nicht zu deuten. Die Frage ist: Hält unsere Gesellschaft diese Ungleichheit aus? Können wir so weitermachen?"

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