Herr über Leben und Tod oder Gott der Liebe?
Michael Frieß’ spannender Beitrag zur Sterbehilfe-Debatte bei Punktsieben
Vor der Entscheidung des Bundestages über die Neuregelung der Sterbehilfe nahm sich die Projektgruppe Punktsieben der Evangelischen Kirchengemeinde Walldorf erneut dieses brisanten Themas an. Moderator Ralf Tolle vom Team Punktsieben begrüßte den evangelischen Pfarrer und Buchautor Michael Frieß, der bereits vor drei Jahren bei dem Walldorfer Diskussionsforum zu Gast war.
„Für die Kirche ist das ein schwieriges Thema“, weiß Frieß. Als „Katholische Phase“ der Auseinandersetzung bezeichnet er die frühere Position der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Gott allein sei der Herr des Lebens, deshalb dürfe der Mensch nicht in das Sterbegeschehen eingreifen. Dieses theologische Argument greife angesichts des medizinischen Fortschritts nicht mehr, sagt Fries. Aus seiner Erfahrung als Rettungsassistent berichtet er von einer Frau, die einen Herzschlag erlitten hat. Jahrtausende lang hätte gegolten, dass diese Frau nun tot sei: Gott ist Herr über Leben und Tod. Doch heute ist das anders: Das Herz der Frau wird reanimiert. Im Krankenhaus liegt sie bewusstlos, ein starker Hirnschaden wird festgestellt. Beginnt man jetzt mit einer künstlichen Ernährung, so dass der komatöse Zustand Jahre andauern kann? Die Entscheidung muss jetzt gefällt werden: von Menschen.
Die Entwicklung der vergangenen Jahre beschreibt Frieß als die „Evangelische Phase“. Als Ratsvorsitzender der EKD und als Theologe sei Nikolaus Schneider gegen Selbsttötung, aber weil er mit seiner Frau in Liebe verbunden sei, würde er sie bis in den Tod begleiten. Dies nennt Michael Frieß eine wirklich evangelische Entscheidung, ein Ringen des Menschen mit sich selbst, in der Partnerschaft und mit Gott.
Derzeit herrsche die „Panische Phase“. Ratsvorsitzender Heinrich Bedford-Strohm schüre die Angst, mit der Möglichkeit über Leben und Tod zu entscheiden werde ein gesellschaftlicher Druck auf Alte und Kranke erzeugt, ihr Leben vorzeitig zu beenden.
Dem hält Frieß entgegen, dass sich in den Staaten, in denen assistierter Suizid zum Teil seit dreißig Jahren möglich ist, keineswegs eine alten- oder krankenfeindliche Stimmung entwickelt hätte. Und dass auch bei uns mit den bestehenden gesetzlichen Regelungen, die nur von Verboten bestimmter Ärztekammern eingeschränkt würden, das Leben des Einzelnen und seine Würde so stark geschützt seien wie niemals zuvor.
Frieß berichtet auch von den vier im Bundestag zur Abstimmung gestellten Gesetzentwürfen. Die größten Aussichten habe eine Regelung, die besage, dass nur Angehörige beim Sterben helfen dürfen. Er selbst hält die Möglichkeit ärztlicher Suizidhilfe für eine besonders effektive Suizidprävention. „Achtzig bis neunzig Prozent der Menschen, die wegen Sterbehilfe anfragen oder sie anfordern und positiv beschieden werden, nehmen sie dann doch nicht in Anspruch.“
Als erster „Konfrontator“ stellt der Vorsitzende des Fördervereins Hospiz Agape Hans Klemm seine Ausführungen unter das Stichwort: „Der verbleibenden Zeit mehr Leben geben!“ Es gehe in der Hospizarbeit um die Würde des Menschen am Lebensende, um persönliche und teilnehmende Sorge und um weitgehende Schmerzmilderung. Sterbehilfe lehne der Hospizverein ab. Wer wolle sich anmaßen zu verbieten, dass ein Mensch zu einem bestimmten Zeitpunkt des Verfalls für sich selbstbestimmt entscheiden darf, fragt Frieß dagegen.
Christoph Dressler von Punktsieben stellt die Frage, warum die Kirche als Organisation sich überhaupt bemüßigt fühle, Menschen in einem so privaten und intimen Bereich Vorschriften zu machen. Die Kirche solle im Privaten niemandem, auch nicht ihren Gläubigen, Vorschriften machen, stimmt ihm Frieß bei. Aber als gesellschaftliche Größe müsse sie sich zu zentralen ethischen Fragen positionieren.
„Für religiöse Menschen geht es darum, wie sie sich Gott vorstellen, als absoluten Herrscher oder als Gott der Liebe“, äußert Ursula Bruckner von Punktsieben. „Sie treffen den Kern der Debatte“, erwidert Frieß. Es gebe kein richtig oder falsch, jeder sehe die Sache aus seinem Verständnis heraus anders. Gott schicke keine Krebserkrankung noch lasse er Metastasen verschwinden. „Gott ist die Kraft der Liebe, die auf mich einwirkt, wenn ich mit einem Menschen im Guten verbunden bin.“
Es ist schon spät und entsprechend kurz fällt die Diskussionsrunde aus. Ein Herr berichtet über den schwer kranken Bewohner eines Pflegeheims, der darunter leide, dass er auf Pflegekräfte angewiesen sei, die wenig Zeit hätten und überarbeitet seien. Es sei auch Aufgabe der Kirche, dafür zu sorgen, dass ein Zustand in einem Pflegeheim nicht würdelos sei, betont Frieß. Mit Blick auf den aussichtsreichen Gesetzentwurf, wonach nur nahe Angehörige Hilfe beim Sterben leisten dürfen, fragt Jemand: „Was tun Menschen, die keine Angehörigen haben?“
(heb)