„Hält unsere Gesellschaft die Ungleichheit aus?“
Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Guy Kirsch bei Punktsieben
Walldorf. (seb) „Ich halte es für ein Unding, dass Tote in das Leben ihrer Nachkommen hineinregieren wollen – und wenn sie ihnen was in den Rachen schmeißen.“ Als Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Guy Kirsch seinen Vorschlag einer 100-prozentigen Erbschaftssteuer verteidigte, stand für ihn die Idee eines freien, selbstbestimmten Lebens im Geiste des individualistischen Liberalismus im Vordergrund.
Der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler erntete viel Widerspruch in der kontroversen Diskussion mit den Besuchern bei „Punktsieben“, dem Diskussionsforum der evangelischen Kirchengemeinde Walldorf. Die Punktsieben-Mitglieder konfrontierten Kirsch auch mit anonymisierten Stellungnahmen, die im Vorfeld per E-Mail zugesandt worden waren und seinen Vorschlag rundweg ablehnten.
Fragen der praktischen Umsetzbarkeit allerdings, nach Steuerflucht oder sozial gerechter Verteilung der Einnahmen, schob Kirsch in der Diskussion beiseite. Man müsse eben Wege finden, meinte er, fand es aber inakzeptabel, sich einem Vorhaben zu widersetzen, nur weil es schwierig werden könnte. Wenn, dann sollte man es ablehnen, weil man es schon vom Ansatz her falsch finde.
Jedoch: Falls man das Vererben nicht grundsätzlich in Frage stelle, „dann hat man sich für eine feudale Gesellschaft entschieden“. Der Professor für Neue Politische Ökonomie legte mit Verweis auf Statistiken und Studien wie die Schulleistungsuntersuchung „Pisa“ dar, dass die soziale Ungleichheit „mitvererbt“ wird, dass Reiche reicher werden, Arme wiederum ihren Kindern weniger Chancen geben können und diese damit „um ihr Leben betrogen werden“: „Sie können leisten, was sie wollen, sie kommen nie auf einen grünen Zweig.“ Ganz grundsätzlich sollte der nächsten Generation ermöglicht werden, „ihr eigenes Leben zu leben“, unberührt von den Verhältnissen im Elternhaus. „Wir nehmen den einzelnen ernst.“ Darin sah er auch Immanuel Kant auf seiner Seite. Und so forderte Kirsch einen „Wechsel der Perspektive“: Aus seiner Sicht gelte es zu begründen, warum jemand Anspruch auf das Erbe habe.
Wie Guy Kirsch weiter darlegte, sollte seine Erbschaftssteuer nicht an den Fiskus, sondern in einen Fonds fließen, der von einem vielfältig besetzten Gremium kontrolliert wird – außer Reichweite der „Grabschhände irgendeiner einzelnen Partei“. Mit diesem Fonds sollte die kommende Generation so unterstützt werden, dass alle die gleichen Startchancen hätten. „Was sie damit machen, ist ihre Sache“, niemand dürfe den Menschen vorschreiben, wofür sie ihr Geld verwenden. Ob sie es verprassen oder damit Unternehmen gründen, sei vom Standpunkt des Individualisten einerlei.
Kirsch antwortete den Kritikern weiterhin, dass manager- statt erbengeführte Firmen nachweislich erfolgreicher seien. Und er bezweifelte, dass der Leistungswille der Menschen nachlasse – weder derjenigen, die dann nicht mehr vererben könnten, noch derjenigen, die dann praktisch ein „bedingungsloses Einkommen“ hätten: „Diesen Pessimismus teile ich nicht.“ Kirsch hielt auch das im Grundgesetz verankerte Recht auf Eigentum nicht für anwendbar, schließlich seien die Eigentümer im Vererbungsfall tot, „die sind weg“.
Dass Tote nicht die Bestimmer über die Lebenden sein dürften, erwiderte er auch auf einen Kompromissvorschlag. Ein Zuhörer verwies auf das christliche Menschenbild, das jedes Individuum eingebunden im Kreis weiterer Menschen sehe, die Gemeinschaft und die Verantwortung füreinander betone. Mit dem Vererben komme man praktisch der Verantwortung für seine Kinder nach. Klar sei in der Bibel die „Option für die Armen“, hieß es, daher könnte man als Christ eine Erbschaftssteuer befürworten, mit der Einkommensschwache gefördert werden, nur eben geringer als 100 Prozent.
Dass nur wenige seiner Meinung sind, findet Guy Kirsch grundsätzlich gut: „Wo alle das Gleiche denken, denkt niemand.“ Er sieht sich aber in einem bestätigt: „Mein Vorstoß passt in diese Zeit.“ Die große Resonanz, positiv wie negativ, wäre für ihn vor wenigen Jahren noch unvorstellbar gewesen. Jetzt aber: „Pegida, AfD, Front Nationale, Trump: Das sind Zeichen von Auflehnung wider den gegenwärtigen Verteilungszustand. Wir wären schlecht beraten, diese Zeichen nicht zu deuten. Die Frage ist: Hält unsere Gesellschaft diese Ungleichheit aus? Können wir so weitermachen?"